Schade

November 26th, 2019

»Ich weiß nicht, wie du das schaffst«, sagt sie. »Hmhm«, antworte ich, »was denn?« Aber ich weiß schon, was sie meint. Sie meint die Pflege. Ich will bloß wissen, wie sie sich ausdrücken wird; ich habe den Verdacht, dass sie, würde sie nicht ausgerechnet mit mir sprechen, »das Arsch abwischen« sagen würde. Sie windet sich. »Naja, die Leute versorgen und so, das mit der Scheiße eben.« Okay.
Ich kann sie verstehen. Ich habe lange Zeit, wenn ich von Pflege sprach, von »Arsch abwischen« gesprochen. Kolleg*innen sagten »Hintern sauber machen«, »Untenrum waschen« oder – ohne Hintergedanken – »säubern«. Ich hab das immer als Verniedlichungen abgetan. Am »Arsch abwischen« gefiel das Brachiale, das Kämpferische, auch das Bäuerlich-Proletarisch-Rustikale, Unprätentiöse: Es braucht Überwindung, einen fremden Arsch abzuwischen. Es hat etwas ehrliches, dachte ich, als ich noch nicht darüber nachgedacht hatte. So erhält man sich die Männlichkeit in der Pflege. Die eigene beschissene Prägung wird man so leicht halt nicht los.

Erst als mir bewusst wurde, dass ich das wegen mir sage, und nicht, weil’s stimmt, mochte ich den Ausdruck nicht mehr. Das Sprechen der Pflege krankt am Schweigen über die Sexualität. Die Aufladung der Begriffe, die Binarität und die Schamhaftigkeit, die alles, was untenrum ist, verdeckt, schlägt direkt durch. Es scheint nur drei Modelle zu geben, zu thematisieren, wenn jemand – sagen wir – eingekotet hat: brutalistisch, verniedlichend, darüber hinwegsehend, es überdeckend.

Das Sprechen darüber deckt sich konkret mit dem Umgang damit. Zum Beispiel bei Maria, ich habe vor anderthalb Jahren schon über sie geschrieben. Maria war am Ende ihres Lebens bettlägerig, inkontinent, nicht mehr orientiert. Sie war ein fröhlicher Mensch, der sehr viel lachte, sehr viel interagierte, interessiert war.

Aber morgens, mittags, abends erstarrte sie kurz einen Moment. Es war der Zeitpunkt, wenn ihre Windeln gewechselt wurden, wenn sie sauber gemacht wurde. Wann immer der Waschlappen auch nur in die Nähe ihrer Scham kam, zuckte sie kurz zusammen und verharrte dann in völliger Apathie. Sie ließ die Waschung über sich ergehen, ich vermutete bald, dass sie Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch gehabt haben könnte.

Wir haben im Team ein halbes Jahr gebraucht, um darüber zu sprechen. Es stellte sich heraus, dass es allen aufgefallen war und jede*r einen anderen Umgang gefunden hatte, um die Situation zu meistern. (Hier stimmt das Wort meistern, es gibt ein schwer auszuhaltendes Machtgefälle in Pflegesituationen.) Der eine machte es so schnell wie möglich, die andere war vorsichtig und achtete auf jede Regung. Ich sang, in der Hoffnung, die lustigen Lieder mögen sie ablenken (und vielleicht auch die Tatsache, dass ich singe wie eine schlecht geölte Garagentür). Jede*r bildete sich ein, sein Weg würde funktionieren, und vielleicht stimmt das auch. Ich habe es nicht geschafft, es anders zu machen als mit Singen.

Pflege wird immer als Ärgernis verstanden wird, als lästige Pflicht, die vom Körper auferlegt wird. Pflege erlaubt nur das nötigste, alles andere steht schnell im Ruch des Lustgewinns, und das darf Pflege nicht: Spaß machen. Durch das Machtgefälle ist die Nähe zum Missbrauch zu hoch, das ist zu gefährlich.

Clemens lässt sich gern rasieren. Ihm gefällt das, er findet es interessant. Noch interessanter findet er es, seit er begonnen hat, mir, sobald ich ihm den Rasierer an die Wange halte, seinerseits ins Gesicht zu fassen. Als er das das erste Mal tat, war ich geradezu entrüstet: meine Intimsphäre! Es hat einen langen Moment gebraucht, bis mir aufging, dass er mit mir nur ebendas tat, was ich auch mit ihm tat. Seither tatscht er mir immer, wenn ich ihn rasiere, im Gesicht herum, wir müssen ein lustiges Bild abgeben. Er genießt es und freut sich, ich freue mich darüber, dass er sich freut (dass mich seine Berührungen freuen werden, dahin werde ich wohl nicht mehr kommen leider, das ist mir vielleicht zu gefährlich). Es kommt vor, dass wenn ich sage, wir seien fertig, er mit »Schade« antwortet.

Singen, anfassen. Das ist wohl, was bleibt, wenn die Sprache versagt. Ich wünschte, ich wüsste einen Weg weg von »wie schafft man das«, weg von der Pflicht; vielleicht gibt es den, man müsste vielleicht mehr darüber sprechen.